Irreführungen in Wortwahl (und Begriffsbildung)

„In einer Ziege von semitischem Antlitz“

(Umberto Saba, „Die Ziege“)

Dem Anschein nach war es der deutsche Historiker Ludwig von Schlözer (1735-1809), der erstmalig , i.J. 1781, das Adjektiv semitisch einsetzte, zur Bestimmung einer Sprachgruppe (Syrisch, Aramaisch, Arabisch, Hebräisch, Phönizisch), die bei den Völkern, die eine Stelle in der Bibel (Gen. 10,21-31) als Abkömmlinge der Söhne Sems, des Sohns Noahs, bezeichnet, in Gebrauch war. Der Neologismus wurde von der Gemeinschaft der Linguisten angenommen und in der Tat treffen wir auf ihn i.J. 1890, in den Lectures on the Comparative Grammar of the Semitic Languages, von W. Wright (1830-1889), dann 1898 in Heinrich Zimmerns (1862-1931) Vergleichende Grammatik der semitischen Sprachen, sowie 1913 in Carl Brockelmanns (1868-1956) Grundriss der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen.

Das Eigenschaftswort „semitisch“ bezieht sich demnach eigentlich auf die Semiten, das heißt, auf eine Völkergruppe, die im Raum zwischen dem Mittelmeer, den Bergen Armeniens, dem Tigris und Südarabien angesiedelt war, um sich schließlich bis nach Äthiopien und Nordafrika auszubreiten; als substantivisches Adjektiv („das Semitische“) bezeichnet das Wort eine entsprechende Sprachgruppe, die sich in drei Untergruppen ordnen lässt: die östliche, oder akkadische (im zweiten Jahrtausend ihrerseits differenziert nach Babylonisch und Assyrisch), die nordwestliche Sprachgruppe (Kananäisch, Phönizisch, Hebräisch, das biblische Aramaisch und das Syrische), sowie eine südwestliche (Arabisch und Äthiopisch).

Die Bezeichnungen „Semit“ und „semitisch“ als Synonyme für „Jude“ und jüdisch“ sind daher ebenso unangebracht, wie es der Gebrauch der Adjektive „arianisch“ oder „indoeuropäisch“ wäre, wenn damit etwa „italienisch“, „deutsch“, „russisch“ oder „persisch“ bezeichnet werden sollte.

Daraus folgt, dass der Gebrauch des Worts „Antisemit“ genauso unangebracht ist, wenn damit bezeichnet werden soll, wer sich „des Antisemitismus schuldig“ (1) macht, eines „Vergehens“, das ein maßgebliches Lexikon wie folgt definiert: „Abneigung gegen das jüdische Volk, die sich verschiedentlich in Form von Verfolgungen bis hin zu einem kollektiven Vernichtungswahn zum Ausdruck gebracht hat und ihren Ursprung in einer im wesentlichen aus entstellenden, historisch-religiösen Vorstellungen schöpfenden Propaganda hat, die auch von Politikern und politischen Gruppen bei Bedarf zur Schaffung von Sündenböcken herangezogen wurde.“ (2) Bei korrektem Gebrauch nämlich würde das Wort „Antisemitismus“ – i.J. 1879 von dem Wiener Journalisten Wilhelm Marr (3) geschaffen – Abneigung gegen die gesamte Völkerfamilie der Semiten bezeichnen; diese ist heute in ihrer Mehrheit durch Völker arabischer Muttersprache vertreten, weshalb die Bezeichnung „Antisemit“ eher geeignet wäre, Träger einer araberfeindlichen Einstellung zu kennzeichnen, weniger aber diejenigen, die sich anti-jüdischer Feindseligkeit „schuldig“ machen.

Aber die Unhaltbarkeit des oben beschriebenen synonymen Gebrauchs („Semit“ gleich „Jude“) wird noch offenkundiger, wenn man die Tatsache bedenkt, dass die heutigen Juden nicht als „Semiten“ definiert werden können, umso weniger als ein „semitisches Volk“. Wenn nämlich die Zugehörigkeit eines menschlichen Kollektivs zu einer größeren Gruppe auf der Grundlage der von den Betroffenen gesprochenen Sprache bestimmt werden kann, dann darf als semitisch nur eine solche Gruppe definiert werden, die eine der oben aufgeführten Sprachen ihr eigen nennt; daraus folgt, dass sich heutzutage Araber und Äthiopier zur Recht als Semiten ausweisen können, nicht aber Juden.

Es ist zwar wahr, dass ab 1948 das Hebräische (Neu-Hebräisch) zur offiziellen Sprache der sich in Palästina angesiedelten zionistischen Kolonie ernannt wurde und dass diese Sprach von der Mehrzahl der heute dort lebenden Juden verstanden wird, es handelt sich dabei jedoch um eine bereits seit zwanzig Jahrhunderten tote Sprache, die erst im 20. Jrhdt. künstlich wieder ins Leben gerufen wurde. Die Juden in der Diaspora sprechen heute, wie in der Vergangenheit, die Sprache der Nationen, in deren Mitte sie leben – Sprachen, die zum großen Teil indoeuropäische sind (Englisch, Spanisch, Italienisch, Russisch, Farsi usw.). Sogar das Jiddische, das im 13. Jrhdt. im mitteleuropäische Raum aus einem mitteldeutschen Dialekt entstand, um sich dann im Verlauf der jüdischen Einwanderungen zu einem internationalen Idiom auszuwachsen, war nichtsdestoweniger ein deutsches Idiom (4), wenn dieses auch sein deutsches und slawisches Grundvokabular um einen hohen Anteil hebräischer Wortbildungen anreicherte und in hebräischer Schrift geschrieben wurde.

Es ist also offensichtlich, dass die Juden keineswegs eine Gruppe, die sich aufgrund ihrer Sprachzugehörigkeit als semitisch bezeichnen könnte, darstellen.

Können wir sie dann wenigstens unter dem Aspekt des ethnischen Profils als Semiten definieren ? Um hierauf bejahend antworten zu können, müsste man die Abstammungsgeschichte der Juden zurückverfolgen können bis auf Sem, den Sohn Noahs. Ein praktisch unmögliches Unterfangen.

Eines ist gewiss: zur Ethnogenesis der Juden haben rassische Komponenten unterschiedlicher Herkunft beigetragen, sowohl im Wege des Proselytismus, wie durch Mischehen („Ehen mit Töchtern eines fremden Gottes“), gegen die die Propheten Israels erfolglos Sturm liefen. „Aufgrund der vorliegenden Zeugnisse und der biblischen Traditionen“, schreibt ein jüdischer Forscher, „lässt sich schließen, dass sich die jüdischen Stämme Israels bereits von Anfang an aus Angehörigen verschiedener Rassen zusammensetzten (…) Im fraglichen Zeitraum nämlich bevölkerten Kleinasien, Syrien und Palästina zahlreiche Rassen: die Amorräer, langschädelige, hochgewachsene Blonde, daneben die Hethiter, eine dunkelhäutige Rasse womöglich mongolischen Ursprungs, die Kuschiten negroider Abstammung und eine beträchtliche Anzahl weiterer. Die Hebräer des Altertums heirateten in alle diese Geschlechter ein, wie zahlreiche Bibelstellen gut belegen“ (5).

Nach dem namhaften italienischen Geographen und Ethnologen Renato Biasuttu (1878-1965) „ist die Frage nach der anthropologischen und rassischen Zuordnung der Juden in der Tat nicht weniger verwickelt und obskur“ (6), als die nach der Zuordnung zahlreicher Anderer. „Einer der Gründe dafür“, führt er aus, „liegt in der Schwierigkeit, stichhaltige Informationen über die somatischen Züge einer derart weit verbreiteten Gruppe zu erhalten“ (7). Man muss darüber hinaus zwischen den jüdischen Gruppen Asiens und denen Europas und Afrikas unterscheiden und, besonders, zwischen Sepharditen (dem südländischen Zweig der Diaspora) und Aschkenasim (dem östlichen Zweig). Während sich die Sepharditen von Nordafrika und dem europäischen Mittelmeerraum bis in die Niederlande und nach England verbreiteten, haben die Aschkenasim große Gebiete Südrusslands, Polens, Deutschlands und des Balkan bevölkert und stellten das größte Kontingent für die Siedlerbewegung des politisch-militärischen zionistischen Gebildes.

Wenn man für einen Großteil der Sepharditen eine zumindest teilweise semitische Abstammung annehmen darf (8), so stehen die Tatsachen im Falle der jüdischen Aschkenasim, die heute neun Zehntel des Judentums weltweit ausmachen, vollkommen anders.

Nicht-semitische Juden

„Dies scheint daraufhin zu weisen (…), dass im Mittelalter die Mehrheit derer, die sich zum jüdischen Glauben bekannten, Chasaren waren. Ein großer Teil dieser Mehrheit emigrierte nach Polen, Litauen, Ungarn und in den Balkan, wo sie jene ostjüdische Gemeinschaft bildete, die ihrerseits die überwiegende Mehrheit des Weltjudentums ausmacht.)

(Arthur Koestler, Der dreizehnte Stamm, zitiert nach ital. Ausg. La tredicesima tribù, Turin 2003, S. 119)

Im letzten Jahr der nationalkommunistischen Regierung Rumäniens wurden im Gefolge eines Staudammbaus am Fluss Küsmöt das transsylvanische Dorf Bözödújfalu überflutet und seine Bewohner umgesiedelt. Die Vorfahren der Bewohner dieses Dorfes waren bis zum Ende des 16. Jrhdts. Unitarier (bzw. Antitrinitarier) gewesen, übernahmen dann Elemente der jüdischen Glaubenslehre und bezeichneten sich als Sabbatarianer; i.J. 1869 konvertierten sie offiziell zum rabbinischen Judentum und bauten sich eine Synagoge (9). Waren die Juden Bözödújfalus das Ergebnis einer über einen längeren Zeitraum hin vollzogenen religiösen Bekehrung einer verschwindend kleinen Minderheit der Székely (ungarisch sprechende Bevölkerung türkischen Ursprungs, die sich um die Anfänge des 11. Jrhdt. in den östlichen Karpaten angesiedelt hatte), so behaupten die Juden einer anderen transsylvanischen Kleinstadt, Sfântu Gheorge (ungarisch: Sepsiszentgyörgy), von zum Judentum bekehrten türkischen Kaufleuten abzustammen, die sich an besagtem Ort niedergelassen hätten, um sich der russischen Eroberung zu entziehen und die dann auch nach 1360, als Ludwig I von Ungarn die Vertreibung der Juden aus seinen Ländern angeordnet hatte, dort verblieben seien (10). Ebenfalls in Transsylvanien, in dem zwischen den Flüssen Mureş und Someş liegenden Gebiet weist die ungarische Toponomastik Kozárd und Kozárvár aus, zwei Siedlungen, die von Chasaren gegründet worden sein müssten; aber Ortsnamen wie Kozár und Kazár finden sich außerdem in verschiedenen Gebieten Ungarns (11). Diese und weitere Hinweise haben zahlreiche Forscher vermuten lassen,chasarische Einwanderungen hätten in beachtlichem Umfang zu der ethnischen Vielfalt, die die jüdische Bevölkerung Ungarns und Transsylvaniens kennzeichnet, beigetragen: „die jüdischen Gemeinschaften mit dem stärksten chasarischen Einschlag sind zweifellos die ungarischen, Nachfahren der letzten Chasaren, die zwischen 1200 und 1300 nach Ungarn flohen, wo sie von ihren ehemaligen Vasallen, den ungarischen Königen, aufgenommen wurden“ (12).

Diese Andeutung eines früheren Vasallenstatus der Vorfahren der Ungarn erhellen sich im Licht der Ereignisse, die der „Besetzung des Vaterlands“ (honfoglalás), d.h. der Ansiedlung der von Árpád angeführten Horde im karpatischen Donaubecken vorausgingen. Die Vorfahren der Ungarn hatten die Länder des chasarischen Reichs zwischen dem Kaspischen Meer, dem Kaukasus und dem Schwarzen Meer verlassen und waren unter Umgehung der Meotischen Sümpfe (das heutige Asowsche Meer) in die Lebedien genannte Region zwischen Don und Dnestr gelangt, um sich dann, dem Druck der Petschenegen (einem Turkvolk) ausweichend, nach Südwesten zu bewegen und sich in dem von Dnjepr und der Niederdonau eingeschlossenen Land zwischen den Flüssen (Etelköz) niederzulassen. Unter dem Angriff von Petschenegen und Bulgaren wich dann das Volk Árpáds i.J. 896 in die Weiten der von Donau und Theiß durchzogenen Ebene aus.

Die Neuankömmlinge waren in einem Stammesverband, genannt On-Ogur („Zehn Pfeile“), organisiert: außer den sieben ugrischen Stämmen, unter denen der magyarische Árpáds eine Führungsstellung behauptete, zählten auch drei Turkstämme, genannt Kabar, zu dem Verband. Es scheint, dass der Völkername Kabar „Rebell“ bedeutet und vermutlich auf einen früheren Widerstand dieses Stammes gegen die Chasaren zurückgeführt werden kann: „einige Forscher vermuten, die Revolte der Kabaren gegen die Chasaren sei auf die pro-jüdische Tendenz König Obadias zurückzuführen, aber einen entscheidenden Beweis zur Erhärtung dieser Meinung gibt es nicht“ (13). Wiederum andere sind der Meinung, einer der im Raum zwischen Donau und Theiß ansässig gewordenen Kabarenstämme habe sich zum jüdischen Glauben bekannt (14).

Wie in Ungarn und Transsylvanien, verweisen auch in der Ukraine und in Polen Ortsnamen auf alte chasarische Ansiedlungen. „In der Ukraine und in Polen,“ schreibt Koestler, „gibt es zahlreiche Namen alter Ortschaften, die auf ‘chasar’ oder ‘zhid’ (Jude) zurück gehen: Zydowo, Kozarzewek, Kozara, Kozarzow, Zhydowska Vola, Zydaticze u.a. Möglicherweise handelt es sich um ehemalige Dörfer, oder auch nur um zeitweilig bewohnte Stätten, die von chasarisch-jüdischen Gemeinden auf der Wanderung nach Westen in Anspruch genommen wurden. Ähnlich lautende Ortsnamen lassen sich in den Karpaten und in der Tatra nachweisen, außerdem in den Ostprovinzen Österreichs. Es wird angenommen, dass sogar die alten jüdischen Friedhöfe in Krakau und Sandomierz, die beide ‘Kaviory’ heißen, kabaro-chasarischen Ursprungs sein könnten “(15).

Was nun insbesondere die Ukraine betrifft, können die Angaben über Ortsnamen um die über Personennamen ergänzt werden: in Kiew und Odessa ist der jüdische Nachname Kazarinsky bezeugt. Die Anwesenheit von Chasaren in der Ukraine geht auf das 8. Jrhdt. zurück, als das Chasarenkhanat seine Grenzen im Westen bis ins Dnjeprtal ausdehnen konnte; seit den Anfängen des 10. Jrhdts. hatte sich eine beachtliche Gemeinde jüdischer Chasaren dauerhaft in Kiew niedergelassen. „Bereits seit der Zeit Igors“, schreibt Solschenizyn, „nannte sich die Unterstadt Kozary; hierhin ließ Igor i.J. 933 die jüdischen Gefangenen aus Kertch verbringen, gefolgt von denen aus der Krim i.J. 965 und i.J. 969 schließlich wurden Chasaren aus Itil und Semender dorthin verbracht, danach, i.J. 989 aus Chersoneso und 1017 aus Tmutarakan. Neuere Forscher bestätigen den chasarischen Ursprung der ‘jüdischen Komponente’ der Stadt Kiew im 11. Jrhdt.“ (16). Ebenfalls in Kiew wurde spätestens 930, als sich die Stadt noch unter der Herrschaft der Chasaren befand, der Kiewer Brief in Hebräisch verfasst. Er ist die bis heute älteste, überlieferte chasarische Urkunde (17).

Die von Kevin Alan Brook aus diesen und anderen Daten gezogene Schlussfolgerung scheint daher mehr als legitim zu sein: „es ist höchstwahrscheinlich, dass die heutigen Juden der Ukraine (wie auch die übrigen Aschkensasim) in einem gewissen Umfang als Nachfahren der ursprünglichen Juden der Kiewer Rus’ einschließlich der Chasaren angesehen werden können (…) Mündliche Überlieferungen aus dem 19. Jrhdt. verleiten zu der Annahme, die Nachfahren der Chasaren gehörten bis in die neueste Zeit zu den Einwohnern der Ukraine“ (18).

Schließlich hatte bereits Avrakham Garkavi in der Jüdischen Enzyklopädie, die unmittelbar vor Ausbruch der Oktoberrevolution in Sankt Petersburg veröffentlicht wurde, behauptet, das russische Judentum sei aus von den Küsten des Schwarzen Meers und aus dem Kaukasus stammenden Juden gebildet worden, die das Jiddische als Sprache erst im 17. Jrhdt. angenommen hätten.

Was die chasarische Abstammung der Juden in Litauen und Weißrussland betrifft, nimmt Peter Golden einen ähnlichen Standpunkt ein: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass zum Judentum übergetretene Chasaren, vor allem die in den Städten niedergelassenen Gemeinden, zur Bildung der slawophonen jüdischen Gemeinden des Kiewer Russland beigetragen haben: diese wurden dann endgültig von jüdischen Gemeinden jiddischer Sprache, die aus Polen und Mitteleuropa in die Ukraine und nach Weißrussland kamen, absorbiert“. (19)

Chasarien

„In Chasarien gibt es im Überfluss Schafe, Honig und Juden“

(Al-Muqqadasi, Descriptio Imperii moslemici. Bibliotheca Geographorum Arabicorum, III, 3, E.J. Brill, Lugduni Batavorum 1906)

Folgt man der Tradition alttestamentarischer Ahnenforschung, so zählen die Chasaren gewiss nicht zu den Abkömmlingen Sems, noch weniger zu denen Chams, jedoch sehr wohl zu denen Jafests: im Kirchenschrifttum des Hochmittelalters werden sie nämlich als „Söhne des Magog“ bezeichnet, oder doch jedenfalls den „Ländern von Gog und Magog“ zugeordnet, während Ibn Fadlan sie schlicht mit den Ya’jûj und Ma’jûj des Koran identifiziert (20). Von Theophanes dem Beichtvater, der sie als „Osttürken“ bezeichnet, bis Lev Gumilëv, der in ihnen eine dagestanische oder sarmatische Volksgruppe, oder auch türkisierte Alanen sieht, haben Historiker und Ethnologen sie – auf dem einen oder anderen Weg – mit der Familie der Turkvölker in Verbindung gebracht. Enige sind der Meinung, der Name der Chasaren sei zurückzuführen auf kaz („wandernd“) und er („Mensch“); Douglas Dunlop indessen verweist auf den chinesischen Namen für einen uigurischen Stamm des Altertums, die Ko-sa (21). Jedenfalls „kann eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Chasaren noch nicht gegeben werden. Es muss aber betont werden, dass die Wanderungen von Ost nach West ein wichtiger, belegter Faktor in der Entstehungsgeschichte des chasarischen Volks darstellen“ (22).

Ein Datum für das erstmalige Erscheinen der Chasaren in den Annalen der Geschichte kann nicht mit Sicherheit genannt werden. Einige datieren es auf 198 v.Chr., als die Chasaren Teile des kaukasischen Gebiets und die nordwestlichen Küsten des Kaspischen Meers bevölkerten. Andere wiederum meinen, das Volk der Chasaren sei erstmals um 350 in die Geschichte eingegangen, im Verlauf der durch den Siegeszug der Hunnen gegen die Alanen ausgelösten Völkerwanderung; wiederum Andere datieren ihr Auftreten gegen Ende des 6. Jrhdts. Danach „absorbierte das Chasarentum (….) mit der allmählichen Verlagerung seines Gravitationszentrums aus dem kaspischen Raum in den des Schwarzen Meers sehr verschiedene Ethnien, insbesondere nahm es Volksgruppen türkischer und iranischer Abstammung (Alanen) auf“ (23), wobei der Zufluss iranischer Herkunft für den in seinem Ursprung turkvölkischen Stamm besonders relevant war. „Diese ethnische Vermischung ergab sich mit Sicherheit aus der Lage des chasarischen Staats – Stütz- und Knotenpunkt der großen Handelsstraßen von Ost nach West und von Nord nach Süd. Scheideweg der Fernhandelsbeziehungen, eine Art Drehbühne, nahm es nicht nur seine Berufung zum Umschlagplatz materieller Güter wahr, sondern wurde auch zum Verbreiter von Ideen und Religionen“ (24).

Auf der entscheidenden geopolitischen und geostrategischen Rolle des Chasarenreichs beharrt Arthur Koestler in seinem berühmten Werk. „Das Land, das von den Chasaren, einem Volk türkischer Herkunft, beherrscht wurde, nahm eine strategisch wichtige Position auf der Durchgangsstraße zwischen Schwarzem und Kaspischen Meer ein, wo sich die orientalischen Großmächte der Zeit gegenüberstanden, In seiner Rolle als Pufferstaat stand Chasarien zwischen dem Byzantinischen Reich und dem drohenden Einfall nordischer Barbarenstämme: Bulgaren, Magyaren, Petschenegen usw., später auch Wikinger und Russen. Ebenso wichtig, wenn nicht im Hinblick auf die Byzantinische Diplomatie und die europäische Geschichte noch wichtiger, war die von den chasarischen Heeren effizient wahrgenommene Funktion eines Schutzwalls gegenüber den andrängenden arabischen Eroberungszügen während deren ersten und vernichtendsten Phasen – ein Schutzwall, der sich der islamischen Eroberung des europäischen Ostens erfolgreich in den Weg stellte“ (25). Bereits vor Koestler hatte D. M. Dunlop dem Chasarenreich die Funktion einer antemurale christianitatis zugesprochen: „Es ist so gut wie erwiesen, dass, wenn es die Chasaren in der Region nördlich des Kaukasus nicht gegeben hätte, sich sogar Byzanz, Bollwerk europäischer Kultur im Osten, von Arabern umzingelt gesehen hätte, so dass die Geschichte der Christenheit und die des Islam wahrscheinlich einen ganz anderen Lauf, als den, den wir kennen, genommen hätte“ (26).

Die hypothetischen Konstruktionen der Historikerphantasien beiseite lassend, kann mit Sicherheit behauptet werden, dass die Eroberung Persiens im Gefolge der siegreichen Feldzüge des Kalifen Omar gegen die Sassaniden (634-642) die nördlichen Grenzen der Dâr al-Islâm bis Tiflis und Derbent ausdehnen konnte, wodurch Chasarien zum Bollwerk gegen ein weiteres Vordringen islamischer Heere bis in die Ebenen Südrussland wurde, von wo aus diese dann die Umzingelung des Byzantinischen Reichs in Angriff nehmen gekonnt hätten. Nach Überquerung des Don und Einnahme der heutigen Ukraine bis zum Dnjepr sowie eines großen Teils der Krim, befanden sich die Chasaren unmittelbar auf dem Scheideweg der geopolitischen Einflusssphären von Islam und Christentum, so dass es die herrschende Schicht für erforderlich hielt, eine sie gegen die Nachbarreiche klar abgrenzende religiöse Identität anzunehmen. Solschenizyn fasst diesen für die Geschichte der Chasaren entscheidenden Schritt wie folgt zusammen: „Die Führer der Turko-Chasaren (damals noch Heiden) akzeptierten weder den Islam (um sich nicht dem Kalifen in Baghdad unterwerfen zu müssen) noch das Christentum (um der Vormundschaft des Kaisers von Byzanz zu entgehen). Daher nahm der Stamm etwa um 732 die jüdische Religion an“ (27).

In Wirklichkeit ist es nicht belegt, dass der Übertritt eines Teils der Chasaren zum Judentum erst nach 750, dem Jahr der Begründung des abassidischen Kalifats stattfand. Zwar datiert al-Mas’ûdî den Religionsübertritt auf Ende des 8. Jrhdts., „nach anders lautenden, orientalischen Quellen aber soll die herrschende Schicht der Chasaren – in erster Linie die Khagân – bereits seit 730-31 Juden geworden sein“ (28). Auf diesen Religionsübertritt nimmt ein auf Arabisch i.J. 1140 von Yehudah ben Shemu’el ha Levi (1086-1141 ca.), einem Intellektuellen des spanischen Judentums, in seiner „Al-hujjah wa’d-dalîl fi nasr ad-dîn adh-dhalîl“ ( Dissertation und Beweisführung zur Verteidigung der verachteten Religion) Bezug. Dieses, auch unter dem Titel Kuzâri (29) bekannte Werk enthält den mutmaßlichen Dialog zwischen Bulan, dem König (bek) der Chasaren und einem Rabbiner. Der Monarch, von einem Engel zum Nachdenken über die Religionen angewiesen, wendet sich zunächst an einen Philosophen, dann an einen christlichen Theologen, und schließlich an einen muslimischen Gelehrten, aber keiner von ihnen konnte seinen Anforderungen genüge tun. Unweigerlich wird es dann einem Rabbiner vorbehalten sein, ihn von der Überlegenheit des Judentums zu überzeugen und ihn zur Bekehrung zu führen.

Die Bekehrung konnte jedoch nicht allzu gründlich gewesen sein, da nämlich i.J. 860, als die Chasaren unter den Druck der in Richtung auf Byzanz vordringenden Muslime gerieten, der bek der Chasaren den basileus bat, einen christlichen Theologen zu entsenden, welcher imstande wäre, „den Argumenten der Juden und der Sarazenen“ passende Antworten entgegen zu setzen (30). Die Aufgabe, die Chasaren zum Christentum zu führen, wurde dem frommen Gelehrten Kyrill anvertraut, der später als „Apostel der Slawen“ in die Geschichte eingehen sollte, im vorliegenden Fall aber weniger erfolgreich war: die Neugetauften zählten kaum zweihundert Seelen, während der bek und die chasarische Führungsschicht dem Judentum treu blieben. Islamische Quellen aus dieser Zeit bezeugen, dass, um „Frieden zu erlangen und dem Kampf, der sie gegen das Kalifat in Frontstellung brachte, ein Ende zu setzen, mussten die Chasaren versprechen, dem Islam als Religion wohlwollend zu begegnen (….) Im übrigen aber, nachdem die arabische Gefahr fürs erste gebannt war, behielten die Chasaren an ihrer Spitze eine dem Judentum treue Führungsschicht“ (31).

Näheres über diese Führungsschicht verrät uns die Antwort des Königs Joseph, die ein Chasarenmonarch um 955 dem Juden Hasdai ibn Shaprut in Cordoba sandte, nachdem er von diesem in einem Brief um Bestätigung der Nachricht über die Existenz eines jüdischen Reichs gebeten worden war. Nachdem er die Bekehrung seines Vorfahren Bulan bestätigte, schrieb der chasarische König Joseph: „Von den Söhnen seiner Söhne stammte ein König namens Obadia ab. Er war ein rechtschaffener und gerechter Mann. Er ordnete das Reich neu und führte die Religion in korrekter und tadelloser Weise ein. Er baute Synagogen und Schulen, ließ zahlreiche gelehrte Israeliten kommen und ehrte sie mit Gold und Silber und diese erläuterten die 24 Bücher (der Torah), die Mischnah, den Talmud und die Gebetsordnung der Khazzan“ (33). Auf Obadia soll eine Reihe von Monarchen mit biblischen Namen gefolgt sein: Ezechia, Manasse I, Hanukkah, Isaak, Zebulo, Manasse II, Nisi, Aaron I, Menahem, Benjamin, Aaron II, Joseph. Es liegt nahe, anzunehmen, dass diese judaisierte Aristokratie die Antwort auf die Missionierungsfeldzüge aus Byzanz bereit hielt, indem sie selbst zum Träger einer Missionierung im Sinne der angestrebten Judaisierung eines Großteils der chasarischen Bevölkerung wurde.

Die so genannte Nestorische Chronik (der Provest’ vremennych let) bezeugt darüber hinaus die Unterwerfung einiger slawischer Stämme durch die Chasaren. Um die Mitte des 9. Jrhdts. griffen die Chasaren die Polanen – am mittleren Dnjeprlauf ansässige Slawen – an und erlegten ihnen Tributzahlungen auf. „Die Polanen“, heißt es im undatierbaren Einführungskapitel der Chronik „gingen mit sich zu Rate, gaben dann pro Haushalt ein Schwert ab und (die Schwerter) brachten die Chasaren zu ihren Fürsten und Ältesten“ (33). Und für den Zeitraum, der dem Jahr 859 („Jahr 6367“) entspricht, wird erinnert, dass die Chasaren Tribut nicht nur von den Polanen erhielten, sondern auch von anderen slawischen Stämmen: „bei den Severianern und den Vjatizen zogen sie Silbermünzen und Eichhörnchenfelle von allen Haushalten ein“ (34). Fünfundzwanzig Jahre später besiegte jedoch Prinz Oleg, der Sohn des Stammvaters der Fürsten der Rus’, die Severianer „und verbot es ihnen, den Chasaren Tribut zu entrichten“ (35); den Radimizen erlegte er ähnliche Verbote auf. I.J. 965 „schickte er Svjatoslav gegen die Chasaren, und als diese davon hörten, zogen sie gegen ihn, angeführt von ihrem Fürsten Kagan; so kam es zu einem Gefecht, in dem Svjatoslav die Chasaren besiegte und deren Stadt Belaja Vezha einnahm“ (36), das heutige Sarkel am Don. „Im Jahr 969“, fährt Solschenizyn fort, „besetzten die Russen das gesamte Wolgabecken, mit Itil (der Hauptstadt Chasariens) und die russischen Schiffe tauchten in Semender, am Ufer des Derbent auf“ (37).

Besiegt im Feld griffen die Chasaren zur Waffe Religion. I.J. 984, „auf dem Hintergrund eines intensiven Verkehrs zwischen den slawischen Ländern und dem islamischen Osten, in einer Epoche, als die Wolga eine Hauptachse des Warenumschlags war und in Kiew zahlreiche Muslime Seite an Seite mit chasarischen Juden und reichen lateinischen und byzantinischen Kaufleuten lebten“ (38), begab sich eine chasarische Delegation nach Kiew, um den Fürsten Wladimir, der sich vier Jahre zuvor des Throns bemächtigt hatte, zu bekehren. Die Kiewer Rus’ sah sich ihrerseits gezwungen, eine ihrer geopolitischen Lage geschuldete konfessionelle Entscheidung zur Selbstbehauptung zwischen Byzanz, dem römisch-germanischen Westen, dem islamischen Raum

und dem Chasarenreich zu treffen.

Es handelt sich um dieselbe Zeremonie der Bekehrung, wie bei Bulan“ (39), aber diesmal ist die Wahl eine andere. Nachdem er die Aufforderungen der Wolgabulgaren, zum Islam überzutreten, zurückgewiesen hatte (und „man denke sich nur aus, was sich hätte zutragen können, wenn sich das erste Russische Staatswesen der Geschichte dem Islam zugewandt hätte: die Entstehung einer echten und wirklichen eurasiatischen Großmacht, die die lange anhaltende Zeit des tatarischen ‘Jochs’ noch tiefer in Asien verankert hätte“) (40), weist Fürst Wladimir gleichfalls das Drängen der katholischen Delegation auf ein Bekenntnis zum lateinischen Ritus zurück. Er gewährte daraufhin den chasarischen Botschaftern Audienzen, bei denen er von ihnen zum Übertritt zum Judentum aufgefordert wurde. Die Nestorische Chronik vermerkt die Antwort des Fürsten: „Wie könnt ihr Andere unterweisen wollen, wenn ihr selbst von Gott zurück gewiesen und vertrieben worden seid ? Wenn Gott euch geliebt und euren Glauben erhört hätte, so wärt ihr nicht in fremde Länder vertrieben worden. Oder wollt ihr etwa, dass uns dies auch widerfährt ?“ (41). Am Ende entschied sich Wladimir bekanntlich für die Taufe nach dem griechischen Ritus und heiratete eine Schwester Basileus II, wodurch Russland der Byzantinischen Kultur erschlossen wurde.

Damit war der Grundstein gelegt zur Bildung einer Diaspora, die die Hinterlassenschaft des chasarischen Judentums über ganz Mittelosteuropa verbreiten sollte.

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